29

 

Tess nahm an, dass sie starb. Sie fühlte sich schwerelos und bleiern zugleich, schwebte in einem Niemandsland zwischen dem Schmerz der einen und dem großen Unbekannten der anderen Welt. Der dunkle Sog dieser fernen, fremdartigen Welt zerrte an ihr, doch sie hatte keine Angst. Eine tröstende Wärme umhüllte sie, als hätten sich starke Engelsflügel um sie gelegt und hielten sie hoch empor, sodass die steigende Flut nur sanft an ihre Gliedmaßen plätscherte.

Sie überließ sich dieser warmen Umarmung. Sie brauchte diese beständige, ruhige Kraft.

Um sie herum waren Stimmen; ihr Klang tief und besorgt, doch Worte waren nicht zu unterscheiden. Ihr Körper vibrierte vom stetigen Brummen irgendeiner Bewegung unter ihr, und ein gelegentliches Schaukeln machte ihre Sinne ganz träge.

Wurde sie irgendwo hingebracht? Sie war zu entkräftet, um sich Gedanken darüber zu machen, zufrieden ließ sie sich treiben in der schützenden Wärme, die sie umfing.

Sie wollte schlafen. Sich einfach auflösen und für immer schlafen …

Ein Tröpfchen von etwas Warmem benetzte ihre Lippen.

Wie Seide glitt es langsam ihren Mund entlang, sein verlockender Duft stieg ihr in die Nase. Ein weiterer Tropfen fiel auf ihre Lippen -  warm und nass und berauschend wie Wein - , und sie rührte ihre Zunge, um davon zu kosten.

Sobald ihr Mund ein Stück geöffnet war, wurde er mit flüssiger Hitze überschwemmt. Sie stöhnte, unsicher, wovon sie da kostete, aber voller Gewissheit, dass sie mehr davon wollte. Der erste Schluck rauschte durch sie hindurch wie eine gewaltige Welle. Es gab noch mehr für sie, ein beständiger Fluss, an den sie sich mit Lippen und Zunge hängte und aus dieser Quelle trank, als wäre sie am Verdursten. Vielleicht war sie das. Sie wusste nur, dass sie es wollte, dass sie es brauchte und gar nicht genug davon kriegen konnte.

Jemand murmelte sanft und tief ihren Namen, während sie das seltsame Elixier in sich aufnahm. Sie kannte diese Stimme.

Sie kannte den Duft, der überall um sie herum zu erblühen schien und in ihren Mund lief.

Sie wusste, dass er sie rettete, der dunkle Engel, dessen Arme sie schützten.

Dante.

Dante war bei ihr in diesem eigentümlichen Gefühl der Leere; sie wusste es mit jeder Faser ihres Seins.

Noch immer schwebte Tess über der schäumenden See des Unbekannten. Langsam stieg das dunkle Wasser an -  dicklich wie Rahm und warm wie ein eingelassenes Bad - , um sie zu umfangen. Dante half ihr hinein, seine Arme hielten sie sicher, so sanft und stark. Sie löste sich auf in der strömenden Flut, trank sie leer und fühlte, wie sie in ihre Muskeln, ihre Knochen und ihre kleinste Zelle drang.

In dem Frieden, der sie umspülte, glitt ihr Bewusstsein in eine andere Welt; eine Welt aus tiefem Scharlachrot, Purpur und Bordeaux.

 

Die Fahrt zum Anwesen dauerte eine Ewigkeit, obwohl Tegan einige Geschwindigkeitsrekorde aufstellte, als er den Wagen durch Bostons geschäftige, kurvenreiche Straßen lenkte und schließlich in den Privatweg einbog, der zum Hauptquartier des Ordens führte. Sobald der Wagen in der Garage des Fuhrparks zum Stehen kam, riss Dante die Tür auf und hob Tess vorsichtig aus dem Fahrzeug.

Sie war noch immer zeitweilig ohne Bewusstsein und stark geschwächt von Schock und Blutverlust, aber er hatte Hoffnung, dass sie überleben würde. Sie hatte nur eine geringe Menge von seinem Blut zu sich genommen. Jetzt, wo sie im Quartier und damit in Sicherheit war, würde er dafür sorgen, dass sie so viel bekam, wie sie brauchte.

Verdammt, er würde ohne Zögern seinen letzten Blutstropfen hergeben, wenn sie das rettete.

Das war nicht einfach bloß so ein gewollt nobler Gedanke, er meinte es ganz ernst. Dafür, dass Tess überlebte, würde er bis zum Äußersten gehen -  ja, er war bereit, für sie zu sterben. Ihre nun vervollständigte Blutsverbindung bewirkte, dass er sich als ihr Beschützer fühlte, aber dies ging weit darüber hinaus. Es ging tiefer, als er sich je hatte vorstellen können.

Er liebte sie.

Die Wildheit seines Gefühls tobte in ihm, als er Tess in den Fahrstuhl der Garage trug, Tegan und Chase dicht hinter ihm.

Jemand drückte den Knopf, und der Lift begann seinen sanften, ruhigen Abstieg durch die über hundert Meter Erdreich und Stahl, die das Quartier des Stammes vor dem Rest der Welt schützten.

Als die Türen aufglitten, erwartete Lucan sie im Korridor.

Gideon stand neben ihm; beide Krieger waren bewaffnet und machten ernste Gesichter. Ohne Zweifel war Lucan durch die eilige Ankunft des Rovers alarmiert worden, die die Sicherheitskameras am Tor des Anwesens aufgezeichnet hatten.

Er warf einen Blick auf Dante und die verletzte Frau in seinen Armen und stieß einen düsteren Fluch aus. „Was ist passiert?“

„Lasst mich durch“, sagte Dante und eilte an seinen Ordensbrüdern vorbei. „Sie braucht sofort Ruhe und Wärme. Sie hat eine Menge Blut verloren …“

„Das sehe ich. Also was zur Hölle war da draußen los?“

„Rogues“, warf Chase ein und übernahm es, Lucan die Ereignisse zu schildern, während Dante ganz auf Tess konzentriert den Korridor entlangging. „Ein Rogues-Trupp hat die Wohnung des Crimson-Dealers auf den Kopf gestellt. Ich weiß nicht, wonach sie gesucht haben. Die Frau muss irgendwie auf sie gestoßen sein. Vielleicht ist sie ihnen in die Quere gekommen.

Sie hat Bisswunden an Arm und Hals von mehr als einem Angreifer.“

Dante nickte zur Bestätigung, dankbar für die verbale Unterstützung des Vampirs aus dem Dunklen Hafen, da seine eigene Stimme ihm im Hals vertrocknet zu sein schien.

„Himmel“, sagte Lucan und warf Dante einen ernsten Blick zu. „Ist das die Stammesgefährtin, von der du gesprochen hast?

Ist das Tess?“

„Ja.“ Er sah auf sie herab. Sie lag bewegungslos und bleich in seinen Armen, und er empfand einen stechenden Schmerz, der sich in seine Brust bohrte. „Noch ein paar Sekunden, und ich wäre zu spät gekommen …“

„Gottverdammte Blutsauger“, zischte Gideon und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich lasse in der Krankenstation ein Zimmer für sie herrichten.“

„Nein.“ Dantes Erwiderung war schärfer als beabsichtigt - und unnachgiebig. Er zeigte sein Handgelenk mit dem Einschnitt; die Haut war noch immer rot und nass an der Stelle, wo er Tess hatte trinken lassen. „Sie ist mein. Sie bleibt bei mir.“

Gideons Augen weiteten sich, aber er sagte nichts weiter.

Auch sonst sagte niemand etwas, als Dante die Gruppe stehen ließ und mit Tess in den Armen durch das Labyrinth der vielen Gänge zu seinen privaten Räumen ging. Dort angekommen, brachte er sie ins Schlafzimmer und legte sie vorsichtig auf das Doppelbett. Er dämpfte das Licht, sprach mit sanfter, tiefer Stimme und versuchte, es Tess so bequem wie möglich zu machen.

Mit einem mentalen Befehl ließ er warmes Wasser ins Waschbecken laufen und entfernte vorsichtig die behelfsmäßigen Verbände an Handgelenk und Hals. Die Wunden hatten glücklicherweise zu bluten aufgehört. Die Bissverletzungen in ihrer makellosen Haut sahen grauenhaft aus, aber das Schlimmste schien überstanden.

Als er die hässlichen Spuren betrachtete, die die Rogues hinterlassen hatten, wünschte Dante, er hätte die Gabe von Tess’

heilender Berührung. Er wollte die Verletzungen verschwinden lassen, noch ehe Tess sie sah, aber er konnte solche Wunder nicht bewirken. Sein Blut würde sie von innen her heilen, ihre Körperreserven frisch auffüllen und ihr eine ungeahnte, übernatürliche Lebenskraft verleihen. Wenn sie künftig als seine Gefährtin regelmäßig sein Blut in sich aufnahm, würde sie ewige Gesundheit erlangen. Mit der Zeit würden auch die Narben verheilen. Nicht zügig genug für ihn. Er wollte ihre Angreifer gleich noch einmal in Stücke reißen, wollte sie langsam zu Tode foltern, statt ihnen die Gnade des schnellen Sterbens zu erweisen.

Der Wunsch nach Gewalt, nach Vergeltung an jedem Rogue, der ihr je ein Leid zufügen könnte, brodelte in ihm wie Säure.

Dante unterdrückte dieses Verlangen und konzentrierte seine Energie darauf, Tess mit ehrfürchtigen, sanften Händen zu pflegen. Er half ihr aus der blutbefleckten Jacke, indem er zuerst die Ärmel abstreifte und dann ihren schlaffen Körper heraushob.

Der Pullover, den sie darunter trug, war ruiniert, die selleriefarbene Wolle an Hals und Ärmel durchtränkt von grellem Rot.

Er würde den Pullover zerschneiden müssen; er sah keine Möglichkeit, ihn ihr über den Kopf zu ziehen, ohne die hässliche Wunde an ihrem Hals zu berühren. Er zog einen der Dolche an seiner Hüfte, fuhr mit der Klinge unter den Saum und trennte das Kleidungsstück sauber auf. Die weiche Wolle fiel zur Seite und enthüllte Tess’ zarte Haut und ihren pfirsichfarbenen Büstenhalter.

So unwillkürlich wie das Atmen regte sich kurz seine Lust, als er ihre Samthaut und die süßen weiblichen Kurven ihres Körpers sah. Ihr Anblick erregte ihn immer unweigerlich, doch sie von den Rogues derart zugerichtet zu sehen, dämpfte sogar die Intensität seiner stärksten Triebe.

Jetzt war sie in Sicherheit, und das war alles, was er wollte.

Dante legte den Dolch auf dem Nachttisch ab, ergriff ihren blutigen Pullover und warf ihn zu der Jacke neben das Bett. Im Zimmer war es warm, aber ihre Haut fühlte sich bei Berührung immer noch kalt an. Er zog eine Ecke der schwarzseidenen Überdecke von der anderen Seite seines großen Bettes und deckte sie damit zu. Dann ging er ins Bad und holte einen eingeseiften Waschlappen und ein frisches Handtuch, um sie zu säubern. Als er zurückkam, hörte er ein leises Klopfen an der offenen Tür. Es klang zu sanft, um von einem der Krieger zu kommen.

„Dante?“ Savannahs dunkle Stimme war noch sanfter als ihr Klopfen. Sie trat ein, den Arm voller Wundsalben und Heilkräuter und die dunklen, freundlichen Augen voller Anteilnahme. Gabrielle, Lucans Gefährtin, folgte ihr. Die Stammesgefährtin mit dem rot schimmernden Haar hielt ein samtweiches Gewand über dem Arm. „Wir haben gehört, was geschehen ist und dachten, wir bringen ein paar Sachen, damit sie es bequemer hat.“

„Ich danke euch.“

Von der Bettkante aus sah er zu, wie die Frauen die mitgebrachten Utensilien ablegten. Sein Augenmerk galt jedoch vor allem Tess. Er hob ihre Hand und wusch mit dem warmen Waschlappen vorsichtig das verschorfte Blut von ihrem Handgelenk. Seine Berührungen waren so zart, wie er es mit seinen großen, unbeholfenen Händen nur vermochte -  Händen, die sich besser dafür eigneten, eine Feuerwaffe oder eine Klinge zu führen.

„Geht es ihr gut?“, fragte Gabrielle hinter ihm. „Lucan sagt, du hast ihr von deinem Blut gegeben, um sie zu retten.“

Dante nickte, aber er war nicht stolz auf das, was er getan hatte. „Sie wird mich dafür hassen, wenn sie erst versteht, was es bedeutet. Sie weiß nicht, dass sie eine Stammesgefährtin ist. Sie weiß nicht … was ich bin.“

Er war verblüfft, als er eine kleine Hand auf seiner Schulter spürte, leicht und beruhigend. „Dann musst du es ihr sagen, Dante. Schieb es nicht auf. Vertrau ihr, damit die Wahrheit für sie einen Sinn ergibt, selbst wenn sie sich anfangs weigert, es zu akzeptieren.“

„Ja“, sagte er. „Ich weiß, dass sie ein Recht auf die Wahrheit hat.“

Er war froh über Gabrielles mitfühlende Geste und ihren vernünftigen Ratschlag. Sie sprach immerhin aus Erfahrung. Die Frau war von Lucan erst vor ein paar Monaten mit ihrer eigenen erstaunlichen Wahrheit konfrontiert worden. Obwohl das Paar seitdem unzertrennlich und eindeutig verliebt war, war Lucans und Gabrielles Weg alles andere als leicht gewesen. Keiner der Krieger kannte die Einzelheiten, aber Dante konnte sich vorstellen, dass Lucan mit seinem starren, unzugänglichen Naturell es für beide nicht einfacher gemacht hatte.

Savannah stellte sich neben ihn ans Bett. „Wenn du ihre Wunden gereinigt hast, trag etwas von dieser Salbe auf. Zusammen mit deinem Blut in ihrem Körper wird das helfen, die Heilung zu beschleunigen und die Narben zu lindern.“

„In Ordnung.“ Dante nahm das Gefäß mit dem selbst gemachten Heilmittel und stellte es auf den Nachttisch. „Ich danke dir. Ich danke euch beiden.“

Die Frauen schenkten ihm ein verstehendes Lächeln, dann bückte sich Savannah, um Tess’ verschmutzte Kleidung aufzuheben.

„Ich glaube kaum, dass ihr diese Sachen im Moment von Nutzen sind.“ Sobald sich ihre Finger um die Kleidung schlossen, verzerrte sich Savannahs sanftes Gesicht. Sie zuckte zusammen und schloss gequält die Augen. Kurz hielt sie den Atem an, dann ließ sie ihn mit einem zittrigen Seufzen entweichen.

„Himmel, das arme Ding. Der Angriff auf sie war dermaßen …

grausam. Wusstest du, dass sie sie beinah ausgeblutet hätten?“

Dante neigte den Kopf. „Ich weiß.“

„Sie war schon fast tot, und dann kamst du und hast … nun gut, du hast sie gerettet, und das ist alles, was zählt.“ Savannah schlug einen heitergelassenen Ton an, der allerdings das Unbehagen nicht vollständig überdecken konnte, das sie beim Lesen der grausamen Einzelheiten des Kampfes durchdrungen hatte.

„Wenn du irgendetwas brauchst, Dante, frag einfach. Gabrielle und ich helfen gern, so gut wir können.“

Er nickte und machte sich wieder daran, die Wunden von Tess mit dem feuchten Lappen zu reinigen. Er hörte, wie die Frauen das Zimmer verließen, dann wurde der Raum um ihn herum sehr still unter dem Gewicht seiner Gedanken. Er wusste nicht genau, wie lange er an Tess’ Seite auszuharren hatte - bestimmt einige Stunden. Er wusch sie zu Ende und trocknete sie ab, dann legte er sich neben sie ins Bett, um ihren Schlaf zu bewachen und darauf zu hoffen, dass sie bald ihre wunderschönen Augen für ihn aufschlug.

Hundert Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er so da lag, hundert Versprechen, die er ihr machen wollte. Er wollte, dass sie immer in Sicherheit war, immer glücklich. Er wollte, dass sie ewig lebte. Mit ihm. Wenn sie ihn wollte. Oder ohne ihn, wenn das der einzige Weg war. Er würde auf sie aufpassen, solange er dazu imstande war. Und er würde gewährleisten, dass sie für immer einen Platz inmitten des Stammes hatte, falls - oder besser gesagt, wenn -  der Tod, der ihm auf Schritt und Tritt folgte, ihn schließlich einholte.

Himmel, dachte er etwa über die Zukunft nach?

Machte Pläne für die Zukunft?

Nachdem er sein ganzes Leben so verbracht hatte, als gäbe es kein Morgen, schien es äußerst befremdlich, dass es nur einer Frau bedurfte, um seine ganze fatalistische Haltung über Bord gehen zu lassen. Er glaubte nach wie vor, dass der Tod an der nächsten Ecke lauerte -  wusste es mit derselben Klarheit, mit der seine Mutter ihren Tod und den ihres Gefährten vorhergesehen hatte. Aber diese außergewöhnliche Frau ließ ihn verdammt noch mal hoffen, dass er sich vielleicht irrte.

Tess weckte in ihm den Wunsch, dass sie alle Zeit der Welt hätten, solange er jede Sekunde davon mit ihr verbringen konnte.

Sie sollte bald aufwachen. Es musste ihr besser gehen, damit er mit ihr ins Reine kommen konnte. Sie musste wissen, wie er fühlte, was sie ihm bedeutete -  und was er ihr angetan hatte, als er sie beide durch ihr Blut miteinander verband.

Wie lange würde es dauern, bis sein Blut von ihrem Körper verinnerlicht wurde und die Verjüngung einsetzte? Wie viel würde sie benötigen? Auf der Fahrt zum Anwesen hatte sie lediglich eine kleine Menge erhalten, nur die paar dürftigen Tropfen, die er in ihren Mund und auf ihre Zunge bringen konnte. Vielleicht brauchte sie mehr.

Er nahm den Dolch vom Nachttisch, brachte seinem Handgelenk einen frischen Schnitt bei und presste die Blutung auf Tess’ Lippen. Er wartete, ob sie darauf ansprach, und wollte den Himmel verfluchen, als ihr Mund geschlossen blieb und sein Blut nutzlos über ihr Kinn rann.

„Komm schon, mein Engel. Trink für mich.“ Er streichelte ihre kalten Wangen und pustete zärtlich eine Strähne der honig-blonden Haare aus ihrer Stirn. „Bitte lebe, Tess … trink und lebe.“

Ein verlegenes Räuspern erklang aus der Richtung des Türrahmens. „Tut mir leid, die … ähem … die Tür war offen.“

Chase. Na, toll. Dante fiel niemand ein, den er jetzt so ungern sehen wollte. Er war von dem, was er tat -  und was er empfand - , viel zu sehr in Anspruch genommen, um sich jetzt unterbrechen zu lassen. Schon gar nicht durch den Ex-Agenten aus dem Dunklen Hafen. Er hatte gehofft, der Mistkerl hätte das Anwesen längst wieder verlassen und wäre dahin zurückgegangen, wo er herkam -  vorzugsweise nachdem er Lucans Schuhe Größe achtundvierzig in den Arsch bekommen hatte.

Andererseits mochte Lucan dieses Privileg für Dante reserviert haben.

„Raus hier“, knurrte er.

„Trinkt sie überhaupt?“

Leise und giftig erwiderte Dante: „Welchen Teil von ,Raus hier‘ hast du nicht verstanden, Harvard? Ich kann im Moment kein Publikum gebrauchen, und ganz sicher brauche ich nichts von deinem Gewäsch.“

Er presste sein Handgelenk wieder gegen Tess’ Lippen und schob sie mit den Fingern leicht auseinander in der Hoffnung, sie würde mit sanfter Gewalt ein wenig von seinem Blut aufnehmen. Es funktionierte nicht. Dantes Augen schmerzten, als er sie ansah. Er fühlte, wie etwas Feuchtes seine Wangen hinablief. Schmeckte das Salz von Tränen, die seine Mundwinkel streiften.

„Scheiße“, brummte er und wischte sich in einer Mischung aus Verwirrung und Verzweiflung das Gesicht an der Schulter ab.

Er hörte, wie Schritte sich dem Bett näherten; spürte, wie die Luft sich bewegte, als Chase eine Hand ausstreckte. „Es könnte besser gehen, wenn du ihren Kopf neigst, etwa so …“

„Fass sie nicht an!“  Dante erkannte seine Stimme selbst kaum wieder, so viel Gift und tödliche Warnung lagen darin. Er fuhr herum und sah dem Agenten in die Augen, sein Blick war scharf und glühte, seine Fangzähne waren blitzartig ausgefahren.

Der wilde Beschützerdrang, der in ihm kochte, war erbittert und absolut tödlich. Chase verstand die Zeichen offensichtlich auf Anhieb. Er wich mit erhobenen Händen zurück. „Es tut mir leid. Ich wollte nichts Böses. Ich wollte nur helfen, Dante. Und um Verzeihung bitten.“

„Bemüh dich nicht.“ Er wandte sich wieder Tess zu, elend vor Sorge und dem heftigen Verlangen nach Ruhe. „Ich brauche überhaupt nichts von dir, Harvard -  außer dass du endlich gehst.“

Ein langes Schweigen war die Antwort, und Dante fragte sich, ob sich der Agent tatsächlich davongeschlichen hatte. Doch so viel Glück hatte er nicht.

„Ich verstehe, wie du dich fühlst, Dante.“

„Ach tatsächlich.“

„Ich glaube schon, ja. Ich glaube, ich verstehe jetzt einige Dinge, die ich vorher nicht begriffen habe.“

„Tja, schön für dich. Verdammt toll für dich, Ex-Agent Chase. Schreib es doch auf, in einem deiner sinnlosen Berichte, vielleicht heften dir deine Kumpels aus den Dunklen Häfen zur Belobigung einen gottverdammten Orden an die Brust. Harvard hat tatsächlich mal was verstanden.“

Der Vampir lachte gequält, aber ohne Groll. „Ich hab’s vergeigt, ich weiß. Ich habe dich und die anderen belogen, und ich habe aus persönlichen, selbstsüchtigen Motiven die Mission gefährdet. Was ich getan habe, war falsch. Und ich will, dass du

-  ganz besonders du, Dante -  weißt, dass es mir leidtut.“

Dantes Puls hämmerte vor Wut, sicher auch aus Sorge wegen Tess’ Zustand, aber er schlug trotzdem nicht wild auf Chase ein, auch wenn er nichts lieber als das getan hätte. Er vernahm die Reue in der Stimme des Mannes. Und er vernahm Demut und Bescheidenheit -  Dinge, die bei Dante selbst eigentlich immer zu kurz gekommen waren. Bis jetzt. Bis Tess kam.

„Warum erzählst du mir das?“

„Ganz ehrlich? Weil ich sehe, wie du diese Frau liebst. Du liebst sie, und es ängstigt dich zu Tode. Du hast Angst, sie zu verlieren, und nun tust du alles Erdenkliche, um ihr beizustehen.“

„Ich würde für sie töten“, sagte Dante ruhig. „Ich würde für sie sterben.“

„Ja. Ich weiß das. Vielleicht siehst du jetzt, wie leicht es ist, zu lügen, zu betrügen oder gar deinen Lebenszweck aufzugeben, nur um ihr zu helfen -  vielleicht würdest auch du alles tun, alles riskieren, jeden Preis zahlen, um sie vor weiterem Schmerz zu bewahren.“

Dante runzelte die Stirn, verdaute diese neue Erkenntnis und war mit einem Mal nicht mehr fähig, den Agenten mit Verachtung zu strafen. Er drehte sich um und sah ihn an. „Du hast gesagt, es gab nie eine Frau in deinem Leben, keine Familie, keine Verpflichtungen außer der Witwe deines Bruders …“

Chase lächelte schief. Sein Gesicht -  verzerrt vor Elend und Sehnsucht -  sagte alles. „Ihr Name ist Elise. Sie war heute Nacht dabei, als du mit Tegan kamst, um mich abzuholen.“

Er hätte es wissen müssen, hatte es auf irgendeiner Ebene auch geahnt. Als diese Frau nach draußen kam, war die giftige Reaktion von Chase unverhältnismäßig gewesen. Er hatte seine Zurückhaltung erst aufgegeben, als er dachte, dass ihr ein Leid geschehen könnte. Und er hatte dreingeschaut, als wollte er Tegan den Kopf abreißen, nur weil der die Frau festhielt. Das alles verriet einen beschützerischen Impuls, der weit über die simple Verteidigung seiner Sippe hinausging. Und nach Chase’ Leichenbittermiene zu urteilen, wurde seine Liebe nicht erwidert.

„Wie auch immer“, sagte der Agent unvermittelt. „Jedenfalls wollte ich bloß … ich wollte, dass du weißt, dass mir alles sehr leidtut. Ich will dir und dem Orden helfen, so gut ich kann.

Also, wenn es etwas gibt, was du brauchst -  du weißt, wo du mich findest.“

„Chase“, sagte Dante, als der Mann sich gerade abwandte, um den Raum zu verlassen. „Entschuldigung akzeptiert, Mann.

Und wofür es auch gut sein mag, mir tut es ebenfalls leid. Ich war auch zu dir nicht ganz fair. Ungeachtet unserer Differenzen sollst du wissen, dass ich dich achte. Die Agentur hat einen guten Mann verloren, als sie dich rauswarf.“

Chase grinste schief, als er die Anerkennung mit einem Nicken quittierte.

Dante räusperte sich. „Und was dein Angebot betrifft …“

„Was soll ich tun?“

„Tess war mit einem Hund spazieren, als die Rogues sie überfallen haben. Hässliche kleine Töle, eigentlich nur als Fußwärmer zu gebrauchen, aber er ist wohl was Besonderes für sie und bedeutet ihr eben viel. Genau genommen ist er so eine Art Geschenk von mir, mehr oder weniger. Jedenfalls lief der Hund allein mit der losen Leine herum, als ich ihn einen Block oder so von Ben Sullivans Haus entfernt zuletzt gesehen habe.“

„Du willst, dass ich einen streunenden Hund wiederfinde, läuft es darauf hinaus?“

„Tja, du hast doch gesagt, du willst helfen, so gut du kannst, oder?“

„Hab ich gesagt.“ Chase schmunzelte. „Na gut, in Ordnung.

Ich bringe dir den Hund.“

Dante grub die Schlüssel seines Porsche aus der Tasche und warf sie dem anderen Vampir zu. Als Chase sich umdrehte, um sich auf den Weg zu machen, fügte Dante hinzu: „Nebenbei bemerkt, die kleine Bestie hört auf den Namen Harvard.“

„Harvard“, wiederholte Chase gedehnt, schüttelte den Kopf und warf Dante einen spöttischen Blick zu. „Ich glaube kaum, dass das ein Zufall ist.“

Dante zuckte die Achseln. „Schön, dass eure erlauchten akademischen Grade auch mal zu etwas nütze sind.“

„Zur Hölle, Krieger. Du trittst mir wegen meiner Bildung in den Arsch, seit ich an Bord gekommen bin!“

„Hey, ich war noch vergleichsweise freundlich. Tu dir einen Gefallen und betrachte Nikos Zielscheiben nicht zu sehr aus der Nähe, es sei denn, du bist dir deiner Männlichkeit sehr sicher.“

„Arschlöcher“, brummte Chase, aber das Grinsen in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Rühr dich nicht von der Stelle. Ich bin demnächst mit deinem Köter zurück. Gibt’s noch was, worum du mich anhauen willst? Jetzt, wo ich meine große Klappe so weit aufgerissen habe, bloß um mit dir quitt zu sein?“

„Da gäbe es tatsächlich noch etwas“, antwortete Dante, schlagartig ernüchtert, als er an Tess dachte und an eine mögliche Zukunft, wie sie ihr zukam. „Aber darüber können wir reden, wenn du zurück bist, okay?“

Chase nickte und verstand die Wendung in der Stimmung.

„Ja. Klar können wir das.“

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